Dienstag, 12. Juli 2016

Tag 161

Heute ist es 161 Tage her, dass ich in Cochabamba gelandet bin. Heute habe ich Halbzeit. Die Zeit ist so unglaublich schnell vergangen und es macht mir echt Angst.
Wenn ich über die letzte Zeit nachdenke ist unglaublich viel passiert. Ich kam am 3 Februar am Flughafen an, ohne auch nur die kleinste Ahnung zu haben, was auf mich zukommen würde. Ich verzweifelte an meinen ersten Tagen und traute mich sogar nicht aus meinem Zimmer raus. Wenn ich mit meinen Eltern telefonierte, bestand die Hälfte der Zeit nur daraus zu weinen. Mit meinem Spanisch kam ich überhaupt nicht zurecht. Als mir meine Leutnatin das Gelände am ersten auf zeigte, verstand ich nicht mal 10%, aber sagte immer schon "Ja". Ich lebte mich immer besser ein. Mein Spanisch wurde besser, ich begann richtig zu arbeiten und fühlte mich immer wohler. Doch dann begann das nächste Problem. In Deutschland hatte mir die Bolivianische Botschaft gesagt, dass es kein Problem mit meinem Jahresvisum geben würde. Das lief aber anders. Der Prozess meines Visums dauerte ewig und war mit viel Kampf verbunden. Zwei Tage nach dem ich mein Visum hatte, wurde meine Leutnatin versetzt. Das führte dazu, dass ich viel mehr arbeiten musste und oft überfordert war. Obwohl wir eigentlich ausgemacht hatten, dass ich nicht oft alleine sein würde, nah es überhand. Bis ich mich aufraffte mit meiner Kapitänin darüber zu reden, verging sehr viele zeit. Doch nun bin ich sehr zufrieden. Und auch wenn die Arbeit wirklich nicht einfach ist, arbeite ich gerne im Heim.
In den 161 Tagen die ich nun hier bin habe ich sehr viel gelernt. Ich bin erwachsener geworden und dass nicht nur, weil ich nun einen eigenen Haushalt führen muss.
Dadurch dass ich nun in den meisten Situationen auf mich allein gestellt bin, keinen Papa mehr an meiner Seite habe der alles für mich macht, bin ich viel selbstständiger und selbstbewusster geworden. Ich bin gezwungen auf Menschen zu zugehen, was ich eigentlich echt nicht gerne mache. Auch wenn es mir immer noch schwer fällt, verlasse ich pünktlich das Heim, auch wenn ich noch viel mehr Arbeit sehe die eigentlich gemacht werden müsste. Ich habe auch viel gelernt geduldig mit Kindern zu sein. Die Kinder sind sehr langsam im verstehen und man muss einige Sachen 10 mal sagen. Es gibt Tage an denen ich mehr Geduld habe als an anderen, aber ich glaube das ist fast normal. Eine der schwersten Aufgaben für mich war es mich bei einem Kind zu entschuldigen. Ich hatte mich zu streng verhalten, was mir erst im Nachhinein auffiel. Für mich war es sehr schwierig auf dieses Mädchen zu zugehen und ihr zu sagen, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Das Mädchen war sehr verwirrt und konnte es nicht so recht verstehen, warum ich mich entschuldigte. Aber genau deswegen war mir das so wichtig. Ich will anders sein. Ich will den Kindern auf Augenhöhe begegnen und Schritt für Schritt von dem Thron herunter steigen, auf den ich mich die letzten Monate gesetzt habe.
Mein größtes Erfolgserlebnis, begann als meine schlimmste Überforderung. Eines der Mädchen trieb mich regelmäßig so sehr auf die Palme, dass ich sie sehr streng bestraft hat. Sie hörte auf keines meiner Worte. Während den Essen saßen wir zusammen und ich war jede Sekunde gestresst von ihr. Ich weiß nicht wann, aber die Beziehung zu ihr hat sich um 100 grad gewendet. Auch wenn ich kein Lieblingskind haben sollte, sie ist es. Ich höre ihr gerne zu und liebe sie sehr. Am Wochenende war sie auf dem Jugendsoldatencamp. Als wir uns heute morgen wieder sahen, haben wir uns beide sehr gefreut. Klar habe ich mich auch über die anderen Kinder gefreut. Aber über sie und ein anderes Kind besonders. Sie erzählte mir ganz ausführlich wie toll das Wochenende war, sagte mir aber auch wie sehr sie mich vermisst hätte. Ich habe keine Ahnung wie ich sie in 161 Tagen hier zurücklassen soll. Die Zeit vergeht so schnell und sie wird immer schneller vergehen. Auch wenn ich mich natürlich auf zu Hause freue, wird ein Teil meines Herzens hier in Cochabamba bleiben. Es geht nicht nur um dieses Kind, sondern über jedes einzelne. Heute Vormittag habe ich zum Beispiel mit den beiden größten geredet. Wir begannen darüber zu sprechen, dass ich ab Freitag 10 Tage nicht in Heim sein werde. Sie meinten zu mir, dass sie mich sehr vermissen werden. Wie soll dass nur werden, wenn ich für immer das Heim verlassen werde? Ich habe sehr Angst vor dem Moment, wenn ich dem Heim für immer, oder auf jeden Fall für sehr lange Zeit den Rücken kehren werde. Ich will aber auch gar nicht so viel daran denken, sondern lieber meine restliche Zeit genießen.
Was mir im Moment sehr zu schaffen macht, ist die Situation mit meinen "Freunden". Ich weiß nicht wirklich, was ich von meinen Freunden hier halten soll. Sie sagen mir oft, dass wir uns doch treffen sollten. Wie machen einen Ort und eine Zeit aus und ich bin pünktlich am Treffpunkt, doch sie kommen nicht. Es kommt auch keine Absage oder Entschuldigung. Ausserdem fehlen mir hier sehr meine Freunde aus Deutschland mit denen ich einfach über alles reden kann. Die mich kennen und mich verstehen. Solche Freunde fehlen mir hier sehr. Ich hoffe, dass es sich verbessern wird und ich am Ende auch hier Freunde habe auf die ich mich verlassen kann.

Seit heute Abend bin ich auch wieder ein Stück mehr Bolivianerin. Es war eine Probe auf 6 Uhr angesetzt. Aber aus einem blöden Grund (Ich suchte 30 Minuten meine Schlüssel, die dann in meiner Hosentasche waren) ging ich viel zu spät los. Doch statt direkt zum Bus zu gehen nah ich mir die Zeit noch kurz einkaufen zu gehen. Ich beeilte mich zwar, aber so schlimm fand ich es nicht. 30 Minuten kam ich zu spät. Ganz bolivianisch bin ich damit aber noch nicht, weil ich immer noch die erste aus meiner Gruppe war. Aber die zweite Sache, die mich etwas bolivianischer macht ist, dass ich seit heute einen traditionellen Tanz tanzen kann. Den Volkstanz aus Sucre. Ok es ist der einfachste von allen, ABER ich kann ihn.
Ich habe hier eine zweite Heimat gefunden und nicht nur die Kinder in mein Herz geschlossen. Ich bin Gott unglaublich dankbar für die Chance die ich bekommen habe. Es ist nicht einfach und auch jetzt gibt es noch Tage an denen ich am liebsten alles abbrechen würde, aber ich werde bleiben. Ich werde jeden weiteren Tag genießen und am Ende mit vielen tollen Erfahrungen aus diesem Jahr raus gehen.
Ich vermisse euch sehr. Aber 161 Tage müsst wir uns noch gedulden. Mein Weg ist hier noch nicht zu Ende:
Auf zu neuen Abenteuern!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen